Lesen auf dem Display oder mit Papier?

Lesedauer 7 Minuten


Diese Frage stellt sich nicht zuletzt nach der Technisierungsinitiative deutscher Schulen in den letzten Jahren. Wenn es darum geht Informationen zur weiteren Verarbeitung aufzunehmen stehen viele Lehrkräfte, Eltern und Schüler*innen vor der Frage „Display oder Papier? In Norwegen hat Anne Mangen sich bereits im Jahr 2008 vielfach dieser Fragestellung angenommen und sie 2016 und 2020 weiter im Blick behalten. Stellt man alle drei Publikationen in einen Zusammenhang, so ergeben sich daraus unserer Meinung nach einige Gründe, Informationen auf der Basis einer gedruckter Form aufzunehmen. Diese Gründe möchten wir hier als Impuls in die Debatte einbringen.

5 Gründe für das Lesen von Büchern in gedruckter Form

1. Bessere Leseverständnis:
Kinder erzielen bessere Ergebnisse im Leseverständnis, wenn sie Texte auf Papier lesen im Vergleich zu Bildschirmen. Dies gilt besonders für narrative und informationsbasierte Texte.

2. Reduzierte Ablenkungen:
Gedruckte Bücher bieten eine ablenkungsfreie Leseumgebung ohne die ständigen Unterbrechungen durch Benachrichtigungen, Hyperlinks oder Pop-ups. Dies fördert die Konzentration und ermöglicht eine tiefergehende gedankliche Auseinandersetzung, und damit ein besseres Verständnis.

3. Ergonomische Vorteile und physische Interaktion:
Die physische Interaktion mit einem Buch, wie das Umblättern der Seiten, unterstützt das Gedächtnis und die Verarbeitung des Gelesenen.

4. Tiefere kognitive Verarbeitung:
Gedruckte Bücher fördern eine tiefere kognitive Verarbeitung, da sie die räumliche Orientierung und das Erinnern von Informationen unterstützen.

5. Vorteile für leistungsstarke Leserinnen:
Leistungsstarke Leserinnen profitieren indirekt besonders vom Lesen auf Papier. Untersuchungen haben gezeigt, dass für diese Gruppe ein Aufnehmen von Informationen in digitaler Form signifikant nachteilig sein kann (siehe Mangen 2020 (Seite 10 im pdf-Dokument) bzw. die deutsche Übersetzung am Ende dieses Textes).


Oder andersherum formuliert: 5 Gründe gegen das Lesen auf Bildschirmen:

1. Schlechteres Leseverständnis:
Das Leseverständnis ist auf Bildschirmen im Durchschnitt schlechter, was sich negativ auf die Informationsverarbeitung und somit auf das Lernen auswirkt.

2. Höhere kognitive Belastung durch Scrollen:
Das Scrollen auf Bildschirmen kann die kognitive Belastung erhöhen und die Fähigkeit beeinträchtigen, den Text strukturell zu erfassen und somit zu verstehen.

3. Negative Auswirkungen vor allem auf leistungsstarke Leserinnen:
Leistungsstarke weibliche Lernende sind besonders benachteiligt beim Lesen auf Bildschirmen (siehe Mangen 2020 (Seite 10 im pdf-Dokument) bzw. die deutsche Übersetzung am Ende dieses Textes).

4. Mehr fehlende Antworten unter Zeitdruck:
Kinder haben tendenziell mehr unbeantwortete Fragen am Ende von bildschirmbasiertem Lesen im Vergleich zum Papier-Lesen. Dies kann auch auf eine ineffizientere Lesestrategie hinweisen.

5. Geringere metakognitive Fähigkeiten:
Kinder entwickeln möglicherweise weniger effektive metakognitive Strategien beim Lesen auf Bildschirmen, was die Fähigkeit beeinträchtigt, ihr Verständnis zu regulieren und zu überwachen.

Konsequenzen für das pädagogische Handeln
Hieraus ergeben sich natürlich weitere Fragen, die es im Bildungssystem zu hinterfragen gilt:
Wann ist die Aufnahme von Informationen von Displays (display-reading) zur Weiterverarbeitung überhaupt notwendig? Klar, es ist organisatorisch leichter einen Informationstext im OneNote-Kursnotizbuch zu hinterlegen oder ihn in Form einer pdf-Datei zu droppen. Aber wie die obigen Untersuchungen über die Jahre hinweg zeigen ist dies vor allem aus Lernforschungssicht nur gelegentlich und vor allem mit neuen Lesestrategien sinnvoll. Es stellt sich also die Frage, wie vor allem die Lehrerschaft auf dieses Dilemma der Arbeitserleichterung vs. Lernförderlichkeit reagiert.

Nicht immer gibt es die Wahl zwischen einer Display- und einer Papierfassung. Daraus ergib sich die Notwendigkeit Strategien zur Verbesserung des Leseverständnisses auf Displays zu entwickeln. Als Diskussionsgrundlage möchten wir hier einige Strategien vorstellen, die ein Konglomerat diverser Forschungsergebnisse sind:

Metakognitive Strategien:

  • Selbstüberwachung und Fragen stellen: Studien haben gezeigt, dass metakognitive Strategien, wie das Überwachen des eigenen Leseprozesses und das Stellen von Fragen, das Verständnis und die Erinnerungsfähigkeit verbessern. Ackerman und Goldsmith (2011) fanden heraus, dass Studierende, die ihren Leseprozess überwachten und reflektierten, besser im Leseverständnis abschnitten.
  • Diskussionsimpuls: Welche Strategien zur Überwachung des eigenen Leseprozesses wenden wir in unserer Bildungseinrichtung bereits an? Das Praxisbeispiel 32 „Textverständnis vertiefen mit Strategiepunkten und Quiz“ aus „Lernen sichtbar machen“ von Wolfgang Beywl et al. (2023, S. 136f.) mag hier eine Hilfestellung u.a. mit dem reziproken Lesen geben.

Visuelle Hilfsmittel:

  • Markieren und Anmerkungen machen: Untersuchungen haben gezeigt, dass das Anfertigen von Notizen und das Markieren von Texten das Leseverständnis verbessern können, da diese Techniken das aktive Engagement mit dem Text fördern (Sönmez & Sulak 2018).
  • Visuelle Organisatoren: Die Verwendung von Mindmaps und visuellen Organisatoren hat sich als wirksam erwiesen, um die Struktur und Hauptpunkte eines Textes zu erfassen und zu organisieren.
  • Diskussionsimpuls: Welche Visualisierungsprinzipien werden bereits in unserer Bildungseinrichtung genutzt? Das Visualisierungsprinzip von Carola Junghans (2022) (Seite 105) kann hier sehr hilfreich sein.

Navigation verbessern:

  • Einsatz von Inhaltsverzeichnissen und Hyperlinks: Studien zeigen, dass das Verständnis von Hypertextstrukturen und die effektive Nutzung von Inhaltsverzeichnissen und Hyperlinks das Navigieren und Verstehen von digitalen Texten erleichtern kann.
  • Vermeidung von Scrollen: Untersuchungen haben gezeigt, dass das Scrollen die kognitive Belastung erhöht und das Leseverständnis beeinträchtigen kann (Sanchez & Wiley 2009).
  • Diskussionsimpuls: Wie gestalte ich meine digitale Informationsaufbereitung strukturell? Vermeide ich die Notwendigkeit des Scrollens und arbeite ich mit Inhaltsverzeichnissen und Hyperlinks?

Digitale Lesekompetenzen entwickeln:

  • Umgang mit Ablenkungen: Forschungen haben gezeigt, dass digitale Ablenkungen die Aufmerksamkeit und das Verständnis beeinträchtigen können (Rosen et al., 2013). Strategien zur Minimierung dieser Ablenkungen sind daher entscheidend.
  • Verständnis von Multimedia-Inhalten: Untersuchungen belegen, dass das Verstehen und Integrieren von Multimedia-Inhalten das Leseverständnis unterstützen kann (Mayer, 2009).
  • Diskussionsimpuls: Geben die Lernenden zu Beginn der Stunde ihre Handys ausgeschaltet ab und werden diese aus dem sichtbaren Raum verbannt? Habe ich mir weiterhin Gedanken über diverse digitale und analog Zugangsweisen in einer abwechslungsreichen Mischung Gedanken gemacht, so dass mein Material zu den multiplen Intelligenzen passt?

Interaktive und adaptive Lernwerkzeuge:

  • Interaktive Lesetools und adaptive Lernplattformen: Interaktive und adaptive Lernplattformen, die sich an das Leistungsniveau der Schüler anpassen, können das Engagement und das Verständnis verbessern.
  • Diskussionsimpuls: Auch hier spielt wieder die Vielfalt an Zugangsweisen eine Rolle. Gerade die Adaptivität von digitalen Informationsdarbietungen im OER-Bereich sollte aber mit der Förderung von Lesestrategien digitaler Produkte zusammengedacht werden.

Tiefes Lesen und kritische Analyse:

  • Tiefes Lesen üben und kritische Analyse: Untersuchungen haben gezeigt, dass tiefes Lesen und kritische Analyse zu einem besseren Verständnis und einer besseren Bewertung von Texten führen.
  • Diskussionsimpuls: Wie intensiv ermögliche ich ein tiefergehendes Lesen durch eine methodische Gestaltung dieses Verstehensprozesses z.B. durch reziprokes Lesen und somit durch eine Visualisierung des Lernprozesses.

Mangen, A. (2020) (Textauszug Seite 9 unten bis 10 in der deutschen Übersetzung):
“Immer mehr Lektüre in und außerhalb der Schule findet auf Bildschirmen verschiedenster Art statt. Zu Hause nutzen Kinder Computer und mobile digitale Geräte vor allem für aktuelle Nachrichten, soziale Kontakte und Kommunikation, die Suche nach Informationen, Unterhaltung, Filme und Musik (Livingstone et al., 2014). Da beim Online-Lesen in der Regel eher überflogen und gescannt wird als zum Vergnügen oder zum Lernen, ist es möglich, dass einige Kinder ein Bildschirmleseverhalten entwickeln, das für ein tiefes Lesen zum Verstehen nicht förderlich ist. Wolf (2018) bezeichnet dies als „bleeding over“-Effekt [mögliche Übersetzung von bleeding over ist überlaufend]. Wenn das Bildschirmlesen von Kindern an Lesestrategien angelehnt ist, die für schnelles und oberflächliches Lesen effizient sind, könnte dies erklären, warum viele Schüler in unserem Experiment beim CBA-Lesen (computerbasiertes Assessment) schlechter abschnitten als beim PBA-Lesen (papierbasiertes Assessment). Mit anderen Worten: Die Unterschiede im Lesemodus könnten darauf zurückzuführen sein, dass die Kinder ein Lese- (und Schreib-) Verhalten adaptieren das durch die häufige Nutzung digitaler Medien geprägt ist (Baron, 2015), und nicht auf einen Mangel an solchen Erfahrungen. Dies erklärt auch, warum der Lesemodus besonders die leistungsstärksten Schülerinnen und Schüler (häufig Mädchen) zu beeinflussen scheint, wenn ihr Lesen und Reagieren in der CBA durch Lese- und Schreibstrategien beeinflusst wird, die sie beim Lesen und Schreiben auf ihren digitalen Geräten anwenden.

Das Lesen langer Texte, insbesondere das Lesen von Büchern, ist ein starker Prädiktor für die Lesefähigkeit (Cunningham & Stanovich, 1997), auch in unserem digitalen Zeitalter. Pfost, Dörfler und Artelt (2013) fanden in einer deutschen Längsschnittstudie heraus, dass die besten Leser häufig Bücher lasen, während die schlechtesten Leser (von fünf Kategorien) wenig lasen, aber digitale Geräte ausgiebig für soziale Kontakte nutzten. Die schlechtesten Leser lasen keine Bücher, und Pfost et al. (2013) stellten sogar fest, dass sich ihre Nutzung digitaler Medien negativ auf die Leseleistung auswirkte. Duncan et al. (2016) fanden ebenfalls heraus, dass traditionelles (gedrucktes) Lesen die Fähigkeit zum Leseverständnis vorhersagt, digitales Lesen hingegen nicht. In Erweiterung dieser Forschungslinie und unter Verwendung der PISA-Datenbank 2009 mit Daten von mehr als 250 000 Jugendlichen aus 35 OECD-Ländern fanden Jerrim und Moss (2019) Hinweise darauf, dass Jugendliche, die mehr Zeit mit dem Lesen von belletristischen Texten verbringen (typischerweise Romane und Geschichten in Büchern) signifikant bessere Lesefähigkeiten haben als Gleichaltrige, die keine oder weniger Belletristik lesen. Die Autoren nennen dies den „Fiction-Effekt“, da kein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Lesens von Sachbüchern, Nachrichten, Zeitschriften oder Comics und der Lesekompetenz festgestellt wurde (Jerrim & Moss, 2019). Da das Lesen von Langtexten bekanntermaßen die Lesefähigkeit fördert, hat das Lesen von Langtexten nach wie vor sowohl in Schulen als auch in digitalen Lesetests ihren Platz. Künftige digitalisierte Lesetests könnten den durch das Scrollen verursachten Modus-Effekt abmildern, indem nur das Lesen kurzer Textpassagen gemessen wird. Dies könnte jedoch die Validität von Leseverständnistests gefährden, da es schwieriger wird, tiefes Verständnis und Reflexion zu testen.

Obwohl Suang, Chang und Liu (2016) auf mehrere Studien verweisen, die positive Lernergebnisse dokumentieren, wenn digitale Technologien im Unterricht eingesetzt werden, wurde keine konsistente Korrelation zwischen den Investitionen eines Landes in digitale Technologien für die Bildung und den Ergebnissen bei der Kompetenzmessung in den Bereichen Lesen, Naturwissenschaften und Mathematik, wie sie in PISA (OECD, 2015) gemessen werden, gefunden. Es scheint wahrscheinlich, dass digitale Geräte für konkrete, kurzfristige Lernziele nützlich sind, während komplexe kognitive Fähigkeiten wie das Leseverständnis am besten durch das traditionelle Lesen von Druckwerken entwickelt werden. Lesefähigkeit ist ein langfristiges Lernen, das sich im Laufe des Lebens entwickelt. Støle und Schwippert (2017) fanden zum Beispiel heraus, dass der Zusammenhang zwischen dem Lesen von Büchern und den Leistungen im digitalen ePIRLS (elektronische internationale Studie über Lesekompetenz der 4. Klasse) viel stärker war als der zwischen der Nutzung digitaler Medien (zu Hause und in der Schule) und den Leseleistungen im digitalen ePIRLS. Wir brauchen ein differenzierteres Bild davon, wofür die verschiedenen digitalen Technologien gut sind und wann das gedruckte Langformat (Buch) zum Lernen vorzuziehen ist. Wir müssen auch wissen, ob die CBA oder die PBA gerechtere Ergebnisse bei der Bewertung des Leseverständnisses junger Leser liefert.“

In der Zusammenfassung heißt es später:
Die Feststellung, dass die negativen Auswirkungen des Bildschirmlesens bei den leistungsstärksten Mädchen besonders ausgeprägt sind, gibt Anlass, die Annahme zu überdenken, dass die Digitalisierung nur oder hauptsächlich für die schlechteren Leser einen Unterschied macht.

Übersetzt mit DeepL.com (kostenlose Version)

Resultierende Rückschlüsse – eine Positionsbestimmung
Die Aufgabe des Bildungssystems ist es nun, diese Erkenntnisse an weiterführenden Schulen als Grundlage für pädagogische Entscheidungen zu nutzen. Die Nutzung von Bildschirmen zur Informationsaufnahme gilt es unserer Meinung nach zumindest in den Jahrgängen 5 und 6 sehr stark zu hinterfragen. Es sollten behutsam Lesestrategien für die Aufnahme von Informationen über Bildschirme erworben werden. Mit Blick auf Hirnforschungserkenntnisse während der Pubertät sollte der Einsatz von Bildschirmen als Informationsträger auch in den Jahrgangsstufen 7 und 8 nur sehr vorsichtig getätigt werden. Vielmehr gilt hier weiter ein sensibler Einsatz von Bildschirmen in der Informationsaufnahme und eine Festigung der erworbenen Lesestrategien auf Displays. Zu betonen ist hier nochmals, dass es um die Aufnahme von Informationen geht. Der Aspekt der Lerndokumentation, der Sichtbarmachung des Lernertrags, ist hiervon zunächst einmal ausgenommen. Es gilt aber auch hier die Frage, wieviel Bildschirm zur Dokumentation benötigt wird, mag doch das Lernergebnis gleichzeitig auch wieder eine Information für andere Lernende sein.

Einfach machen!
Herzliche Grüße Jörg & Jörg

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