Die drei Anforderungsbereiche
Allen Lehrenden sind die drei Anforderungsbereiche bekannt:
1. Anforderungsbereich —> Reproduktion (Wissen / Kennen)
2. Anforderungsbereich —> Organisation und Transfer (Anwenden / Übertragen)
3. Anforderungsbereich —> Problemlösung und Urteilsfindung (Urteilen / Bewerten)
Passen diese ausschließlichen drei Anforderungsbereiche aber noch in die heutige Zeit? Geht es in einer ständig durch Krisen gestörten Persönlichkeitsentwicklung wirklich nur um die Bewältigung von Problemen? Wird somit das Agieren nicht nur auf ein Re-Agieren reduziert?
An vielen Stellen der Erwachsenenbildung ist von agilen Teamstrukturen, von agilen Innovations-Strategien und gar von einer agiler Schule die Rede, doch bilden die bisherigen drei Anforderungsbereiche diese Agilität im System Schule ab?
Vielleicht lohnt sich ein Blick auf die Entwicklung in der frühen Kindheit: Kinder haben von Natur aus Vorstellungen, die wir Visionen nennen können. Kinder spielen kommunikativ und kreativ zusammen. Sie leben dabei in einer Fantasiewelt. So bringen sie einem z.B. ein „Eis mit einer Eiskugel“, die jedoch real aus Sand besteht. Die Kinder und auch die Erwachsenen wissen, dass es sich dabei nicht wirklich um ein Eis im klassischen Sinn der Erwachsenen handelt. Trotzdem betrachten alle Beteiligten diese Fantasiewelt spielerisch als ihre momentane Realität. Die Fantasiewelt ist also eine Vision. Die Fantasiewelt eines Kindes ist ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens.
Durchlaufen die Kinder und Jugendlichen das klassische Schulsystem, so geht es bis zum Ende der Schulzeit häufig und anscheinend nur noch um Realitäten, um die Kenntnis und das Wissen über verschiedene Sichtweisen, um die Anwendung und Übertragbarkeit auf andere Situationen und Begebenheiten sowie um die Problemlösung und Urteilsbildung mit bekannten und oft erprobten Lösungsstrategien auf Grundlage vorhandener Anforderungen. Entspricht diese den Anforderungen des 21. Jahrhunderts?
An dieser Stelle seien die Begriffe und Modelle 4K, 21st Century Skills sowie VUCA vs. BANI und der Cynefin-Workframe Ihrer Literatur empfohlen. Eine informative und vernetzende Darstellung vieler Aspekte finden Sie bei Jan Vetter – Schule im Wandel.
In der Schulzeit wird oft ein Großteil der frühkindlichen Fantasiewelt ab-gelernt. Wenn Teile dieser Welt in der Schule überleben, dann häufig in musisch-künstlerisch kreativem Bereich – hier werden diese Fantasiewelten zumeist noch gepflegt und dessen Weiterbildung ermöglicht. Sollte Lernen in Schule nicht vielmehr eine Grundlage schaffen, die eigenen kreativen Visionen zu kommunizieren und ko-konstruktiv ausgestalten zu können?
Die Notwendigkeit des vierten Anforderungsbereichs?
Wo brauchen wir Visionen in unserem Leben? Wo ist die Fantasie, wo ist Kreativität gefragt? Wissen Lernende, wie sie zukünftig leben wollen, wie sie arbeiten wollen, was sie zu-frieden macht? In der globalisierten, medial stark geforderten VUCA-Welt gilt erst recht: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ (Albert Einstein). Vielmehr müssen agile Lernkonstruktionen geschaffen werden, die die Lernenden dazu befähigen, sich auf neue, bisher noch nicht existierende Herausforderungen einzulassen.
Abschied vom Lernen im Gleichschritt
„Alle gleichaltrigen Schüler haben zum gleichen Zeitpunkt beim gleichen Lehrer im gleichen Raum mit den gleichen Mitteln das gleiche Ziel gut zu erreichen.“
(Helmke 2013)
Etwas grammatikalisch korrekter könnte der Satz lauten: „Alle etwa gleichaltrigen Schüler*innen haben zum selben Zeitpunkt bei derselben Lehrkraft im selben Raum mit den gleichen Mitteln dasselbe Ziel gleich gut zu erreichen“. (Döttinger, Ina und Christina Lang-Winter 2020)
Diesen Gleichschrittgedanken können wir ersetzen durch eine V-8-Lernbegleitung: „Auf vielfältigen Wegen mit vielfältigen Menschen an vielfältigen Orten zu vielfältigsten Zeiten mit vielfältigen Materialen in vielfältigen Schritten mit vielfältigen Ideen in vielfältigen Rhythmen zu gemeinsamen Zielen“ (Allemannenschule Wutöschingen).
Betrachtet man das Lernen unter diesem Blickwinkel, so könnte eine sinnfällige Erweiterung darin bestehen, die bisherigen drei Anforderungsbereiche um den vierten Bereich „Visionen entwickeln“ zu erweitern. Er bietet auch die Brücke zu neuen Lernaufgaben und zu neuen Überprüfungsformen im Sinne neuer Prüfungsformate (siehe hier Zeitgemäße Prüfungskultur).
Visionen können aber auch wieder als Grundlage und Ausgangspunkt gesehen werden. Sie knüpfen so an Realitäten an. Und in Verbindung mit stetigen Reflexionen können so agile Haltung gefördert und agile MindSets entwickelt werden. Letztlich führt dieser 4. Anforderungsbereich somit zu einer vertieften und die Agilität wertschätzenden Persönlichkeitsentwicklung (siehe u.a. auch personenorientierten Professionalisierungsprozess bei Julia Košinár).
Weiterführende Literaturempfehlung zur Agilität und Bildung:
Kantereit, Tim u.a. (2021) Agilität und Bildung. Ein Reiseführer durch die Welt der Agilität. (CC-BY-SA)
Einfach machen!
Herzliche Grüße Jörg & Jörg
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